Integrative Zahnheilkunde (Archiv)

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Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD)

Von Olf Kehr

1. Begriffsbestimmung und Beschwerdebild

Unter dem Krankheitsbild „Craniomandibuläre Dysfunktion“, im folgenden CMD genannt, werden alle schmerzhaften und nicht schmerzhaften Beschwerden zusammengefasst, die auf strukturelle, funktionelle, biochemische und psychische Fehlregulation der Muskel- und/oder Kiefergelenksfunktion zurückzuführen sind (Kares et al. 2001).

Kaumuskelschmerzen, Kiefergelenksschmerzen und -geräusche, Zahnschmerzen, -hypersensibilitäten, -lockerungen und
-wanderungen, substantielle und parodontale Zahndefekte sowie Irritationen an und in Weichgeweben, wie Zunge, Wangenschleimhaut und Lippen sind häufige im unmittelbar zahnärztlichen Bereich vorkommende Symptome. Aber auch Schmerzen im primär nicht betroffenen Bereichen wie Kopf und Gesicht, Nacken, Hals, Schulter, Rücken und Gelenken sowie Irritationen im Bereich des Ohres (z. B. Tinnitus, Schwindel), der Augen (z. B. Sehstörungen), des Halses (z. B. Schluckbeschwerden, Stimmveränderungen) und Taubheitsgefühle in Armen und Fingern gehören ebenso zum CMD-Symptomenkomplex, wie die mehr im psychosozialen Bereich einzuordnenden Symptome wie beruflicher und familiärer Stress, Gereiztheit, Unruhe, Stimmungsschwankungen, Unentschlossenheit sowie die häufig anzutreffende Schlaflosigkeit und depressive Verstimmung (Herget 2000; Kares et al. 2001; Kohlmann 2002; Könecke 2004; Losert-Bruggner/Schöttl 2004; Neuhuber 2004; Saxer/Czech 2004; von Pierkatz 2001)

Schon aus dieser Vielzahl der genannten Bereiche wird deutlich, dass die mit der CMD zusammenhängenden gesundheitlichen Beschwerden in breiten Fachkreisen oft spät oder überhaupt nicht erkannt werden und dies in vielen Fällen zu einer Chronifizierung des Schmerzgeschehens führt, welches dann therapeutisch nur schwer zu beherrschen ist.

Nach KOPP/PLATO 2001 sind chronische Schmerzsyndrome, wie chronische Kopfschmerzen, atypische Gesichtsschmerzen, aber auch Schmerzen im Bereich des Beckenbodens, mit Dysfunktionen im cranio-mandibulären System vergesellschaftet. Im Falle eines Chronifizierungsgrades III nach Gerbershagen findet man bei Kopf- und Gesichtsschmerzpatienten in 100 % der Fälle eine CMD. Nach Drechsel/Gerbershagen (1992) ist der myoarthropathische Schmerz die häufigste Ursache von Gesichtsschmerzen.

In Anlehnung an die Ergebnisse von Kopp/Plato (2001) können Schmerzsyndrome von Dysfunktionen der Kiefergelenke, des gesamten cranio-mandibulären Systems bzw. der Okklusion ausgelöst bzw. unterhalten werden oder auch die Beeinflussung in umgekehrter Richtung erfolgen. Eine CMD kann primär stumm sein, aber trotzdem durch negative funktionelle Einflussnahme der Regelsysteme des Körpers Fernwirkungen zeigen.

2. Befunderhebung bei CMD

Die zunächst verwirrende Vielfalt des CMD-Symptomenkomplexes erfordert eine klare Systematik bei einer umfangreichen Befunderhebung. Andererseits sollten aber auch die diagnostischen Maßnahmen in der zahnärztlichen Alltagspraxis umsetzbar sein, weiterhin auch der Kontrolle des Therapieverlaufes dienen sowie den Hinweis auf die Notwendigkeit zur Einbeziehung von Co-Therapeuten liefern.

Traditionell zählen zu den klinischen Leitsymptomen der CMD (DWORKIN/LE RESCHE 1992):

  • Schmerzen (insbesondere bei Bewegung des Unterkiefers) und Palpationsempfindlichkeit im Bereich der Kiefergelenke und/oder derKiefermuskeln bzw. deren Sehnen
  • Einschränkung der Unterkieferbeweglichkeit
  • Kiefergelenkgeräusche (Knacken; Reiben) bei Bewegung des Unterkiefers

Das dominierende Symptom ist der Schmerz. In Abgrenzung von nichtschmerzhaften CMD-Formen (z.B. Knackgeräuschen) werden im Folgenden nur die schmerzhaften CMD betrachtet.

Der Schmerz nach WHO-Definition ist eine „unangenehme sensorisch-emotionale Erfahrung, die mit potentieller Gewebsschädigung verbunden ist oder als solche erfahren wird“. Hieraus wird ersichtlich, dass Schmerzen, durch die Subjektivität ihrer Wahrnehmung ohne Berücksichtigung der emotionalen Komponenten überhaupt nicht erkannt und begriffen werden können (Kares 2004).

Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer sogenannten zweiachsigen Vorgehensweise in der initialen Diagnostik. Zum einen sollte eine Befundung somatische, physische Aspekte (Achse I) sowie zum zweiten psychosoziale Parameter (Achse II) berücksichtigen. In der Vielfalt der unterschiedlichen Diagnosesysteme haben sich zwei der weltweit wahrscheinlich gebräuchlichsten durchgesetzt (Freesmeyer/Fussnegger 2002), die die zweiachsige Vorgehensweise berücksichtigen, die „Guidelines for Assessment, Diagnosis and Management of Orofacial Pain“ der American Academy of Orofacial Pain (AAOP) sowie die „Research Diagnostic Criteria for Tempomandibular Disorders“(RDC/TMD).

Die Richtlinien der AAOP haben den Vorteil, dass sie für praktisch alle schmerzhaften und nicht schmerzhaften, angeborenen oder erworbenen CMD diagnostische Kriterien beschreiben, während die RDC/TMD sehr klare Ein- und Ausschlusskriterien für die häufigsten Diagnosen liefert und darüber hinaus auch präzise Angaben zur Untersuchungstechnik macht (Freesmeyer/Fussnegger 2002). Nach Türp et al.(2000) und Kares (2004) haben sich international die RDC/TMD durchgesetzt, um zwischen leicht behandelbaren, akuten Formen der CMD und den prognostisch schwierig einzuschätzenden, chronifizierten Fällen zu unterscheiden.

Hierbei erfolgt in Achse I nach Dworkin/Le Resche (1992) eine Unterteilung der CMD in 3 Diagnosegruppen (Kiefermuskelschmerzen; Verlagerung des Discus articularis; Kiefergelenks-arthralgie, aktivierte Arthrose, Arthrose) mit insgesamt 8 Diagnosen, von denen 4 durch schmerzhafte Befunde gekennzeichnet sind (myofacialer Schmerz; myofacialer Schmerz mit eingeschränkter Kieferöffnung; Arthralgie; aktivierte Arthrose des Kiefergelenks). Eine Einordnung der Patienten in ein (oder mehrere Diagnosegruppe(n) geschieht ausschließlich auf der Grundlage der von den Patienten angegebenen Symptomatik bzw. den Ergebnissen der klinischen Befundung (Türp et al. 2000).

In Achse II werden die Schmerzintensität, das Ausmaß schmerzbedingter Beeinträchtigungen bei den täglichen Aktivitäten, das Ausmaß depressiver Verstimmung sowie das Vorhandensein unspezifischer somatischer Symptome beurteilt (Dworkin/Le Resche 1992; Türp et al. 2000).

In Anlehnung an Freesmeyer/Fussnegger (2002), Türp et al. (2000) empfiehlt der Arbeitskreis Mund- und Gesichtsschmerzen der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (DGSS) eine nach Behandlungseinrichtung und Patientenmerkmalen differenzierte Anwendung der Diagnostik in Form eines Stufenkonzeptes. Die Mindestdiagnostik (Stufe 1) umfasst dabei eine gezielte schmerzbezogene Anamnese laut Angabe des Patienten, eine Ganzkörperzeichnung, den „Graded Chronic Pain Status“(GCPS)(nach von Korff et al. 1992) und die physische Befundung (Achse I). Zur differentialdiagnostischen Abklärung wird weiterhin noch eine Panoramaschichtaufnahme empfohlen.

Die Standarddiagnostik (Stufe 2) besteht aus der Mindestdiagnostik plus einem erweiterten Screening auf psychologische Mitbeteiligung bei Patienten bei denen Hinweise auf psychosoziale Belastung vorliegen oder bei denen Schmerzen zum Zeitpunkt der Patientenvorstellung länger als 6 Monate bestehen oder eine hohe Beeinträchtigung nach GCPS Grad III und IV vorliegt oder nach einer Therapie von 4 Wochen keine wesentliche Besserung festzustellen ist.

Drittens können in der „Erweiterten Diagnostik“ zu jeden Zeitpunkt weiter Instrumente und diagnostische Verfahren eingesetzt werden, wie z. B. Schmerztagebuch, psychometrische Tests, Erfassung weiterer funktioneller Parameter, MRT/CT oder Instrumente zur Erfassung darüber hinausgehender psychosozialer Aspekte (Türp et al. 2000).

Ein von Kares (2004) vorgestellte CMD-Symptomliste hat sich als praktisches wie ökonomisch sinnvolles Instrumentarium zur Mindestdiagnostik in Achse I sowie II erwiesen. Der Fragebogen wird bei geringsten Verdacht auf CMD jeweils vor der Behandlung wie auch eine vorbereitete Ganzkörperschmerzzeichnung selbstständig vom Patienten ausgefüllt und anschließend dann in einem zeitökonomisch begrenzten aber effizienten Patientengespräch ergänzt und bewertet. Zur Vervollständigung der Mindestdiagnostik Achse I ist dann noch die klinische Untersuchung mit Erhebung eines Funktionsstatus (z.B. nach Helkimo 1974) notwendig.

3. Therapiemöglichkeiten

Grundsätzlich sollte die Therapie von CMD nicht nur unter der zahnärztlichen Betrachtungsweise sondern auch unter einem interdisziplinär, medizinischen Ansatz erfolgen. Die im folgenden aufgeführten therapeutischen Möglichkeiten sind bei geringgradigen CMD-Symptomen oft schon einzeln wirkungsvoll, bei stärkeren Symptomen aber nur in gelungener Kombination erfolgreich einsetzbar.

  1. Zahnärztliche Therapien mit funktionstherapeutischen Geräten, wie verschiedensten temporären und Dauerschienen, kieferorthopädischen Geräten, Myozeptoren und Aqualizer (SCHÖTTL 2004) sowie diverse Therapien zu Änderung der Okklusions- und Artikulationsverhältnisse, wie Einschleifmaßnahmen am Gebiss oder die restaurative Versorgung zur Wiederherstellung harmonischer Zahnkontaktbeziehungen zählen zu den schon lang erprobten Routinemaßnahmen bei CMD mit komplexer Wirkung.

  2. Die Patientenaufkärung durch den Zahnarzt steht als obligate Maßnahme im Zentrum einer jeden Behandlung mit dem Ziel der Bewusstmachung oraler Fehlhaltungen oder Gewohnheiten und deren Abstellung.

  3. Eigenbehandlungen wie autogenes Training, die progressive Muskelentspannung nach Jakobson, Biofeedback, Yoga, Feldenkrais, Zilgrei (Bornhofen 2000) und Hypnosetechniken können vom Patienten erlernt werden und als Entspannungsverfahren im Rahmen eines Selbstmanagements eingesetzt werden (Freesmeyer 1993).

  4. Akupunktur, Mundraumakupunktur und Elektroohrakupunktur nehmen einen zunehmenden Stellenwert in der Schmerztherapie der CMD ein (Gaus 2004; Gleditsch 2004; Losert-Bruggner/Schöttl 2004).

  5. Physiotherapeutische Maßnahmen, Kälte, Wärme, Massagen und Bewegungsübungen wie auch elktrophysikalische Methoden, z. B. T.E.N.S. werden als wirkungsvolle positive Beeinflussungsmöglichkeiten beim Beschwerdebild der CMD angesehen.

  6. Die Möglichkeiten der systemischen medikamentösen Therapie in Form von Analgetika, nonsteroidale Antirheumatika, Muskelrelaxantia, trizyklische Antidepressiva, Cortikoide sowie schlaffördernde Medikamente und Benzodiazepine wurden bisher von Zahnärzten wenig genutzt, da deren Verordnung einer gezielten allgemeinmedizischen Anamnese und strengen Indikationsstellung bedarf und daher oft nur in Zusammenarbeit mit dem Allgemeinmediziner oder einem erfahrenen Schmerztherapeuten eingesetzt werden können. 

  7. Die lokale medikamentöse Therapie in akuten Schmerzphasen ist vor allem durch die Infiltration von neuraltherapeutischen Lokalanästhetika sehr erfolgreich. Nach Kares et al. 2001 haben sich bei der Schmerzbehandlung auch Phytotherapeutikas und Homöopatikas bewährt.

  8. In einer klinischen Verlaufstudie konnte Kehr (2006) die Wirksamkeit einer Magnesiumsubstitution auf die Verbesserung der Beschwerden bei CMD nachweisen.

Literatur ist beim Autor erhältlich.

Autor:

Olf Kehr
Zahnarzt

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